Esprit im Entwicklerbad - Ein schneller Geist - ein neuer Geist?
Leverkusen. Sigmar Polke Fotografien 70-80. Assoziationen zu unveröffentlichten Fotoarbeiten aus einer jüngst entdeckten Bilderkiste Sigmar Polkes (1941 – 2010).
500 Fotografien wurden aus dem großen Konvolut für eine Zeitreise in die 1970 und 80er Jahre ausgewählt. Sie stammen aus der Sammlung Georg Polkes, aus einer Bilderkiste, die der Sohn 1978 bekam. Die Fotografien eröffnen lebhafte Diskussionen – auch, weil viele aus dem „who is who“ der rheinischen Kunstszene noch erfragt werden müssen. Wer zum Beispiel ist die „Telefon-Dame“ in einer der Serien?
Auf zwei Etagen im Museum Schloss Morsbroich, Leverkusen gelingt eine weitere Annäherung an das Werk des „Alchemisten“ und „Universalkünstlers“ Polke (einem der international wichtigen Künstler der Gegenwartskunst neben Gerhard Richter). Polke organisierte zusammen mit Gerhard Richter, Konrad Lueg und Manfred Kuttner Mitte der 1960 Jahre selbst Ausstellungen (zum Beispiel „Leben mit Pop – eine Demonstration für den Kapitalistischen Realismus“, 1963 im Möbelhaus Berges in Düsseldorf). Er verfolgte konsequent und spielerisch seine Experimente zu Wahrnehmung und Medienpräsenz. Seine ironisch-spritzigen Bild-Kommentare auf Konsumgesellschaft, Politik, zeitgenössische Kunst und Kunstgeschichte fordern immer wieder Auge, Intuition und Denken. Die Bilder des mehrfachen documenta Teilnehmers, Träger des Goslarer Kaiserrings, Rubens-Preisträgers der Stadt Siegen und Biennale-Preisträgers (Sao Paulo, Venedig) werden in Millionenhöhe gehandelt, die Preise seiner Fotografien liegen (laut Auktionsdatenbanken) meist im 4-, seltener im 5-stelligen Bereich.
Humorvoller Chronist der rheinischen Kunstszene
Eine Foto- oder 16mm Film Kamera hat Polke für aktuelle Notizen seit den 1960er / 70er Jahren stets dabei. Zu sehen sind Sequenzen aus Polkes persönlicher Umgebung: in Düsseldorf, seit 1972 dann auf dem Gaspelshof in Willich, später in Köln, im Atelier, beim Ausstellungsaufbau, bei seiner Tätigkeit als Lehrer an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste, auf Vernissagen und auf vielen Reisen. Es entstehen „unglaubliche Dokumente des Dabeiseins“, die von Lebensfreude und Anteilnahme, von der wachen Offenheit und Präsenz des Fotografen zeugen. Legendär sind Polkes „Linsenflirts“ und Interaktionen, wenn bei Treffen mit Künstler-Freunden und Weggefährten die Kamera „als Ball durch die Runde“ ging und auch der Künstler selbst „als hinterhältig spaßiges Modell“ auftritt (Bice Curiger).
Polke im Schaumbad (als „schaumgeborener Wannenplantscher“) oder schattenhaft vor gemusterten Dekostoffen laufend, mit seinen Lebensgefährtinnen Mariette Althaus und Katharina Steffen, auf Vernissage-Feiern, Kollegen, zum Beispiel Blinky Palermo, Katharina Sieverding, Michael Buthe und Achim Duchow.
Es finden sich Objekte, gerastert wie in seinen Bildern, Fantasiestudien zu Goya-Werken, surreale Notizen einer „Lady Shiva“ aus Zürich. Foto-Collagen zeigen zum Beispiel einen verdreifachten Obelisk auf der Place de la Concorde, in den Ägyptens Sonnenmythologie projiziert wird.
Dunkle Kammer
Das Licht sei, sagt Georg Polke, ein zentrales Motiv im Gesamtwerk seines Vaters. Alltägliche Schnappschüsse, oft unscharf und extra falsch belichtet – sind Basis für vielfältige Experimente und chemische Prozesse im Fotolabor. Close-up, Mehrfachbelichtung, Umkehreffekte, Überblendungen, Solarisation und Zufälle während des Entwicklungsprozesses verblüffen – es finden sich Bilder zwischen Wiedererkennbarem und Surreal-mystischem. >>Zu seinen 1973 in New York aufgenommenen Fotos schrieb er 1990: „Die Bowery-Photos sind gut. Da sind zum ersten Mal diese Photoflecken drauf. Ich hatte erstmals alle Fehler, die beim Entwickeln und Vergrössern geschehen, eingesetzt, aber so, dass sie das Bild zugleich interpretieren, weil die Penner sowieso daliegen im Dreck. Da kannst Du die Photos mal mit all ihren Möglichkeiten das ausdrücken lassen.“ << (nach: Gabriele Hoffmann).
Licht und Chemie im Atelier
Solche Verfahren der Fotografie und Fotoentwicklung nutzt Polke auch für seine Malerei. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Polkes Beitrag auf der Biennale 1986, für den er mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet wird. In den wärmeempfindlichen acht Farbtafeln, den Schleifenbildern bewirken Silbernitrate fotochemische Prozesse, so dass sich die Werke je nach Raum- und Tagestemperatur farblich verändern.
60 Verfremdete Xerografien, wie Kontaktabzüge mehrreihig über- und nebeneinandergehängt, in denen Polke seinen Biennale-Beitrag 1986 aufnimmt, vergegenwärtigen die Zeit, den Ort, den Aufbau, die Architektur (Biennale Venedig, ohne Titel, um 1986).
Polkes Faszination an der Fotografie lässt sich vielleicht – gerade im Zusammenhang mit seiner fotografischen Inventur der Venedig-Biennale – mit Überlegungen der Kulturkritikerin Susan Sontag eher verstehen: In ihrem Essay „Über Fotografie“ schreibt sie, Fotografien seien auch „… Beweis und zugleich Memento Mori von Sterblichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Sie vermittelten Informationen darüber, dass etwas dagewesen ist. Auch, schreibt sie weiter, bedeute es, „… an den Dingen, wie sie nun mal eben sind, interessiert zu sein“.
Was da gewesen ist (bei einem Schnappschuss und während der laborchemischen Entwicklung) zeigt das fertige Bild. Eine nachträgliche Bearbeitung und eine bedingte Steuerung des Zufalls chemischer Prozesse im Entwicklerbad schließt das nicht unbedingt aus.
Polke, der seit Mitte der 1960er mit der Kamera zunehmend unerschöpfliches Bilder-Material produzierte, spielt auch mit der (Kunst-)historischen Tradition der Fotografie, die fast von Anfang an auch übersinnliche Phänomen beweisen konnte. Dazu zählt das Interesse vieler Künstler für die parapsychologischen und hypnotischen Forschungen des Mediziners und Psychotherapeuten Albert von Schrenck-Notzing (1862-1929), der zum führenden Theoretiker der „Geisterfotografie“ avancierte.
Polke hielt in diesem Sinne in den 1960er Jahren (in seiner Düsseldorfer Wohnung) spiritistische Sitzungen ab und beobachtete, wie sich Bilder im Entwicklerbad materialisierten.
Als eines der Hauptwerke seiner ironischen Kritik an gesellschaftspolitischen Verhältnissen, an Geniekult und Kunstkonsum gilt sein lapidarer Kommentar mit Arbeiten der Reihe Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen! (1969).
Sein Gemälde Die drei Lügen der Malerei irritiert im Vexierspiel von poröser, transparenter Oberfläche, von Dekor und fragmentierten Dingen und durchscheinendem Keilrahmen. Das Bild Die Dinge sehen wie sie sind dagegen kommentiert die Wahrnehmung, indem sie den Schriftzug des Statements wie auf einem verdreht entwickelten Foto-Negativ oder einem Kinderspiel rückwärts lesen lässt: dnis eis eiw nehes egniD eiD.
Sigmar Polke, Fotografien 70 – 80, Museum Schloss Morsbroich, Leverkusen, 27.05. – 02.09. 2018
http://www.museum-morsbroich.de
Publikation zur Ausstellung mit einer Auswahl erstmals publizierter Fotografien mit Texten von Fritz Emslander und Bice Curriger