Einleitung: Für einen Moment vergessen, was aus dem Lot geraten ist?
Diese Notizen entstehen vor dem Hintergrund der sich stündlich mehr und mehr überschlagenden Nachrichten zur Corona-Virusepidemie. Die Vorstellungen und Assoziationen von „Raum“ als von lichten, hellen, weiten Räumen werden immer wieder überdeckt von Bildern, die Grenzen, Enge und Verbot zeigen. In wohltuendem Gegensatz dazu stehen die grenzenlosen Gedankenspaziergänge durch die Ausstellungen von Laurenz Berges, Hannsjörg Voth und Lynn Chadwick. Diese Künstler gehen ganz unterschiedlich mit Räumen um, gestalten sie in verschiedenen Medien, aber alle laden ein, die „Weite“ ihrer Objekte virtuell und real zu durchmessen.
Berges: Lichtbilder aus der Region Ruhrort 4100 Duisburg
Bottrop. Für Laurenz Berges steht das Licht im Mittelpunkt. Licht bedeutet für ihn zugleich Farbe. In seinen Bildern bringt er Vergangenheit und Gegenwart in Verbindung. Mit Fotografien menschenleerer Orte – von der Sowjetarmee verlassene Kasernen in Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre, geräumten Dörfern im Braunkohlegebiet um Düren (Etzweiler) – wurde der Foto-Künstler international bekannt.
Von Menschen gestalteter Raum wird in Ausschnitten fotografiert
Seit Anfang des Jahres zeigt das Museum Quadrat Ausschnitte von Außen- und Innenräumen, von Stadt und Landschaft: eine Serie regionaler Erinnerungen an eine Zeit des Strukturwandels im Ruhrgebiet. Sie zeigt, wie Berges‘ Fotokunst aus der Gegenwart heraus Erinnerungen wecken kann.
Duisburg am Rheinhafen, mit der alten Postleitzahl 4100, die einstige „Stadt Montan“, bekannt durch Tatortkommissar Schimanski, durch Becks Bier und den Bildhauer Wilhelm Lehmbruck, war ein wichtiges Industrie- (Krupp, Mannesmann, Thyssen) und Kulturzentrum. Bei vielen, wiederholten Besuchen in den letzten 10 Jahren im Norden Duisburgs – in den Stadtteilen Bruckhausen, Marxloh, Alt-Wedau, Ruhrort – sehe er, sagt Berges, dort, wo Industrie einst Wohlstand brachte, stetige Veränderungen.
Ästhetik des Hässlichen
Sein Thema, sagt Berges, seien „Wände, wo der ganze Dreck der Geschichte noch dran ist,“ . Solche banalen Spuren von Vergänglichkeit, Abnutzung und Verfall lagern sich alltäglich ab in leeren Treppenhäusern, Toreinfahrten, Wohnungen, Straßen, an Fassaden. Berges wählt nach längerem, geduldigen Beobachten (meist intuitiv) Ausschnitte, die er mit einer Plattenkamera ablichtet.
Alle Fotografie ist Raum-greifend
Berges, ausgebildet an der Folkwang-Universität, Assistent bei der Fotografin Evelyn Hofer in New York, Meisterschüler von Bernd Becher an der Düsseldorfer Akademie, findet für diese von Menschen gebaute und wieder vernachlässigten Orte – Architektur und bebaute Landschaft – Ausschnitte mit klaren geometrischen, architektonischen Strukturen. Sie wirken wie eine Zwischenwelt von realer Wahrnehmung (Wirklichkeit) und verrätselten Spuren einer untergehenden (vom Menschen zerstörten) Industriekultur.
Wichtig, sagt Berges, sei ihm das Einzelbild, auch wenn zu einem Thema ganze Serien entstehen. Er erarbeitet subjektiv eindringliche, leere und (im doppelten Sinne) stille Icons in dokumentarischem Stil. Es finden sich präzise, klare, farblich zurückhaltende, „gedämpfte“, differenzierte, Einzelbilder. Sie entstehen meist bei Tageslicht, unter bedecktem Himmel oder in Räume einfallend. Verhaltene Rau-Farben entsteht auch durch die von Hand abgezogenen Bilder. Viele lassen sich über den Bildrand hinaus zu bekannten Szenerien, vergangener Geschichte assoziieren, die sich erst bei mehrmaligen Hinsehen erschließen.
Zwischen intensiver Annäherung und distanzierter Vertrautheit entstehen konzentrierte exemplarische, typische Bildmomente – Raum für individuelle Assoziationen, die in jedem noch so kleinen Detail angelegt sind. Er habe, sagt er, daran gearbeitet, wie wenig ›Information‹ eine Fotografie haben kann „wie reduziert das Bild sein darf und trotzdem noch etwas erzählt.“ Dafür nutzt Berges auch die technischen Möglichkeiten der Plattenkamera. Er durchstreift Orte, bevor er intuitiv findet, was er aufnehmen will. Ausschnitt, Struktur, Objekt und Licht werden dem Betrachter neu präsentiert und auch mit der Kamera anders gezeigt. Denn – so notiert der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892-1940) das „Neue Sehen“ in der Fotografie „… es ist eine andere Natur, die zur Kamera spricht als die zum Auge.“ Mit dem technischen Apparat wird ein „vor-bewusstes Sehmoment“ dauerhaft in kleinsten Details und Strukturen abgelichtet und so deutlich erkennbar.[1]
Berges lädt ein zur achtsamen Wahrnehmung des stillen, ruhigen, entschleunigten Raums. Bilder erschließen sich umfassend bei mehrmaligem Betrachten. Es gilt einerseits, in den präzisen Bildausschnitten „wertfreie“, nahezu abstrakte Räume aus gedämpften, zurückhaltenden, Farben, Formen unvoreingenommen zu entdecken oder andererseits über den Bildrand hinaus eigene Erzählungen oder eine kulturgeschichtliche, gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Dokumentation zu assoziieren.
Hansjörg Voth: Landart-Projekte
im Lebensraum Natur
Wuppertal. Erkundet Berges mit seiner präzisen, reduzierten Bildsprache Möglichkeiten für Farbe und Material, für Form, Fläche und Raum, durchfährt oder bebaut Hannsjörg Voth weite Räume unter freiem Himmel in unterschiedlichen Landschaften. Seit den 1970er Jahren verweist er mit monumentalen, spektakulären Land-Art Projekten auf von Menschen gemachte Eingriffe in Regionen mit unterschiedlicher Geschichte und Kultur.[3] Ingrid Amslinger dokumentiert in ruhigen und eindrucksvollen schwarz-weiß Fotografien diese zeitlich begrenzten, vergänglichen Land-Art-Projekte. Sie werden in Fotografien, Katalogen und Filmen bewahrt, erinnern an weiten Raum, Bewegung und Wahrnehmung aus unterschiedlichem Abstand. Acht dieser Projekte werden zusammen mit Voths parallel dazu entstandener Malerei, Modellen, Konstruktionszeichnungen und surrealen, poetischen Blättern im von der Heydt Museum vorgestellt. Für seine allzeit gültigen Themen Natur, Zivilisation, Mensch und Umwelt findet der ausgebildete Zimmermann, Absolvent der Bremer Kunsthochschule und documenta-Teilnehmer archetypische, philosophische und zugleich religiöse Formulierungen. Sie gewinnen in der Klimakrise erneut brisante Aktualität. Er sei, heißt es, vehementer Gegner des landschaftszerstörenden Offroad-Tourismus.
In Voths zahlreichen spektakulären Projekten stehen immer wieder die vier Elemente Wasser und Feuer, Erde und Luft im Mittelpunkt.
Feuer
Hauptelement in seinem Projekt Reise ins Meer ist das Feuer. „Mit dem Feuerraub“, schreibt die Kunsthistorikerin Monika Wagner, „gelangte Feuer nicht nur als kulturschaffendes, sondern auch als kriegerisches Element in den Besitz des Menschen. Feuer brennt in der Hölle und gehört als Licht zu den himmlischen Verheißungen.“ „Im Unterschied zur Gegenwärtigkeit des Feuers“, so Wagner, „sind Asche und Ruß besonders „gedächtnisfähige Materialien“, sie sind „Speicher für Vergangenes“.[4]
Eine verpackte Skulptur mit einer Bleimaske, festgezurrt auf einem Floß aus Baumstämmen, reist flussabwärts von einer Industrie-, Kultur-, und Hafenstadt (Ludwigshafen / Pfalz) in die holländische Handelsstadt Rotterdam. Diese 10-tägige Reise ins Meer (Mai bis Juni 1978) endet mit einer Verbrennungszeremonie der Statue. Voth übergibt die Asche dem Element Wasser, den Ruß dem Luftraum. Die bleierne Maske bleibt. Durchfahren wurden mit Weinbergen bebaute Hänge, Naturgebiete und Industrielandschaft. Dazu zählen die Industrie- und Fabrikgebiete Krefeld, Duisburg und das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim.
Erde als Gedächtnisspeicher
In der marokkanischen Mahra-Ebene entstehen mehrere Projekte in der dort traditionellen Lehmbauweise. Sie symbolisieren Prozesse des Wachsens und Werdens, von Ruhe und Dynamik. Das Element Erde wird als Gedächtnisspeicher – als „Urstoff“ und „Speicher von Geschichte eines Ortes“ verstanden.[5] Voth erweitert in seinen Projekten diese Symbolik.
Eine breite, 16 Meter hohe Himmelstreppe (gebaut 1980-87) führt über 52 Stufen scheinbar ins Unendliche. Wie eine Jakobsleiter symbolisiert sie ein Hinauf- und Hinuntersteigen zwischen Himmel und Erde. Im Innern des monumentalen Dreiecks finden sich Wohn- und Arbeitsräume. Auf der oberen Plattform steht, von außen unsichtbar, die mythologische Skulptur Ikarus: Zwei Flügel aus handgeschmiedeten scharfen Messern, zwischen die ein Mensch passt, erinnern an den Wunsch, den Luftraum zu erobern.
Die Erdskulptur Goldene Spirale – ein Bauwerk, das über einen Brunnen gebaut ist – konstruiert Voth zwischen 1994 bis 1997 nach dem Prinzip des goldenen Schnitts in Verbindung mit der Fibonacci-Reihe des Leonardo von Pisa (1180-1250). Er beziehe sich, so Voth, auf eine Gesetzmäßigkeit, die in vielen ungestört ablaufenden Prozessen in der Natur stattfindet – im menschlichen Körper, Kristallen und Pflanzen. Auf dem Wasser des Brunnens schwimmt eine Arche („Urboot“) aus Edelmetall, die Anfang und Urkraft versinnbildlichen soll.
Die Stadt des Orion realisiert Voth 2000 – 2003. Sieben große astronomische Beobachtungstürme aus gestampftem Lehm repräsentieren die sieben Hauptsterne des Orion als Großskulptur auf der Erde. Rigel, Siaph, die drei >Gürtelsterne< Mintaka, Alnitak und Alnilam, sowie Bellatrix und Betelgeuse, sind durch ihre Lage am Himmelsäquator von allen Teilen der Welt am eindrucksvollsten in den Wintermonaten zu sehen. Geplant sind astronomisch exakt berechnete Rundgänge.
Lynn Chadwick: Mit Eisenstäben im Raum zeichnen
Schwerpunkt der Schau sind Icons der Werkgruppe Beasts (Biester), Skulpturen der Strangers (Fremde), Birds (Vögel) und menschliche Figuren, die sitzen, stehen oder tanzen (Sitting Figures, Dancing Figures) – ein Universum massiver Körper, teils auf fragilen Stelzen, teils Abstraktionen menschlicher, tierischer und architektonischer Elemente.
Fabelwesen und Biester bevölkern Raum und Zeit Unterschiedlich interpretiert werden Chadwicks eckige, figurativ-abstrakte Sinnbilder – halb Mensch, halb Tier – als „Geometrie der Angst“, als skurrile, technoide Gestalten aus romantischen Märchen und kurioser Sciencefiction-Welt. Ein Symbol für Freiheit und Schwerelosigkeit seien die „Fledermauswesen“. Mit seinen Skulpturen habe er, heißt es, einen Nerv der Zeit nach 1945 getroffen, einer Zeit der Zivilisationsmüdigkeit, utopischer Fortschrittsgläubigkeit und existentieller Angst nach den unmittelbar zurückliegenden Kriegserfahrungen. Ein Teddypärchen (Teddy Boy and Girl, 1956) steht für die Einflüsse von Jugendkultur und Popart.
Architektur und Natur
Dem Bildhauer selbst war der Schaffensprozess wichtig. Für seine „Faltungen“ und „Zersplitterungen“, für massive und fragile Skulpturen, zeichnete er ohne festes Konzept mit Eisenstäben im Raum: er schweißte ein Gerüst aus Metallstangen und füllte es mit einem Gemisch aus Gips und pulverisiertem Eisen (Stolit). Anschließend wird die Figur in Bronze gegossen. Für spätere Figuren verwendet er blanken Edelstahl (Sitting Figures, 1989).
Für den Kunsthistoriker Werner Schmalenbach sind Chadwicks Plastiken – ähnlich wie Skelettbauten in der Architektur – „Rahmenkonstruktionen mit Füllwerk“.[8]
Wie wichtig ihm die Gestaltung der Figur im Raum ist, erläutert Chadwick 1995, befragt zur Entstehung einer Figur der Stranger:„… das sind nur Eisenschrottstücke, die ich zu einem Blech zusammengeschweißt habe. Ich habe sie nur leicht zu einem Rechteck geformt und dann die Beine hinzugefügt, durch … eine andere Form der Konstruktion“.[9]
Ausstellungen / Literatur:
Diese Notizen entstehen vor dem Hintergrund der sich stündlich mehr und mehr überschlagenden Nachrichten zur Corona-Virusepidemie. Die Vorstellungen und Assoziationen von „Raum“ als von lichten, hellen, weiten Räumen werden immer wieder überdeckt von Bildern, die Grenzen, Enge und Verbot zeigen. In wohltuendem Gegensatz dazu stehen die grenzenlosen Gedankenspaziergänge durch die Ausstellungen von Laurenz Berges, Hannsjörg Voth und Lynn Chadwick. Diese Künstler gehen ganz unterschiedlich mit Räumen um, gestalten sie in verschiedenen Medien, aber alle laden ein, die „Weite“ ihrer Objekte virtuell und real zu durchmessen.
Berges: Lichtbilder aus der Region Ruhrort 4100 Duisburg
Bottrop. Für Laurenz Berges steht das Licht im Mittelpunkt. Licht bedeutet für ihn zugleich Farbe. In seinen Bildern bringt er Vergangenheit und Gegenwart in Verbindung. Mit Fotografien menschenleerer Orte – von der Sowjetarmee verlassene Kasernen in Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre, geräumten Dörfern im Braunkohlegebiet um Düren (Etzweiler) – wurde der Foto-Künstler international bekannt.
Von Menschen gestalteter Raum wird in Ausschnitten fotografiert
Seit Anfang des Jahres zeigt das Museum Quadrat Ausschnitte von Außen- und Innenräumen, von Stadt und Landschaft: eine Serie regionaler Erinnerungen an eine Zeit des Strukturwandels im Ruhrgebiet. Sie zeigt, wie Berges‘ Fotokunst aus der Gegenwart heraus Erinnerungen wecken kann.
Duisburg am Rheinhafen, mit der alten Postleitzahl 4100, die einstige „Stadt Montan“, bekannt durch Tatortkommissar Schimanski, durch Becks Bier und den Bildhauer Wilhelm Lehmbruck, war ein wichtiges Industrie- (Krupp, Mannesmann, Thyssen) und Kulturzentrum. Bei vielen, wiederholten Besuchen in den letzten 10 Jahren im Norden Duisburgs – in den Stadtteilen Bruckhausen, Marxloh, Alt-Wedau, Ruhrort – sehe er, sagt Berges, dort, wo Industrie einst Wohlstand brachte, stetige Veränderungen.
Ästhetik des Hässlichen
Sein Thema, sagt Berges, seien „Wände, wo der ganze Dreck der Geschichte noch dran ist,“ . Solche banalen Spuren von Vergänglichkeit, Abnutzung und Verfall lagern sich alltäglich ab in leeren Treppenhäusern, Toreinfahrten, Wohnungen, Straßen, an Fassaden. Berges wählt nach längerem, geduldigen Beobachten (meist intuitiv) Ausschnitte, die er mit einer Plattenkamera ablichtet.
Alle Fotografie ist Raum-greifend
Berges, ausgebildet an der Folkwang-Universität, Assistent bei der Fotografin Evelyn Hofer in New York, Meisterschüler von Bernd Becher an der Düsseldorfer Akademie, findet für diese von Menschen gebaute und wieder vernachlässigten Orte – Architektur und bebaute Landschaft – Ausschnitte mit klaren geometrischen, architektonischen Strukturen. Sie wirken wie eine Zwischenwelt von realer Wahrnehmung (Wirklichkeit) und verrätselten Spuren einer untergehenden (vom Menschen zerstörten) Industriekultur.
Wichtig, sagt Berges, sei ihm das Einzelbild, auch wenn zu einem Thema ganze Serien entstehen. Er erarbeitet subjektiv eindringliche, leere und (im doppelten Sinne) stille Icons in dokumentarischem Stil. Es finden sich präzise, klare, farblich zurückhaltende, „gedämpfte“, differenzierte, Einzelbilder. Sie entstehen meist bei Tageslicht, unter bedecktem Himmel oder in Räume einfallend. Verhaltene Rau-Farben entsteht auch durch die von Hand abgezogenen Bilder. Viele lassen sich über den Bildrand hinaus zu bekannten Szenerien, vergangener Geschichte assoziieren, die sich erst bei mehrmaligen Hinsehen erschließen.
Zwischen intensiver Annäherung und distanzierter Vertrautheit entstehen konzentrierte exemplarische, typische Bildmomente – Raum für individuelle Assoziationen, die in jedem noch so kleinen Detail angelegt sind. Er habe, sagt er, daran gearbeitet, wie wenig ›Information‹ eine Fotografie haben kann „wie reduziert das Bild sein darf und trotzdem noch etwas erzählt.“ Dafür nutzt Berges auch die technischen Möglichkeiten der Plattenkamera. Er durchstreift Orte, bevor er intuitiv findet, was er aufnehmen will. Ausschnitt, Struktur, Objekt und Licht werden dem Betrachter neu präsentiert und auch mit der Kamera anders gezeigt. Denn – so notiert der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892-1940) das „Neue Sehen“ in der Fotografie „… es ist eine andere Natur, die zur Kamera spricht als die zum Auge.“ Mit dem technischen Apparat wird ein „vor-bewusstes Sehmoment“ dauerhaft in kleinsten Details und Strukturen abgelichtet und so deutlich erkennbar.[1]
Berges lädt ein zur achtsamen Wahrnehmung des stillen, ruhigen, entschleunigten Raums. Bilder erschließen sich umfassend bei mehrmaligem Betrachten. Es gilt einerseits, in den präzisen Bildausschnitten „wertfreie“, nahezu abstrakte Räume aus gedämpften, zurückhaltenden, Farben, Formen unvoreingenommen zu entdecken oder andererseits über den Bildrand hinaus eigene Erzählungen oder eine kulturgeschichtliche, gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Dokumentation zu assoziieren.
Hansjörg Voth: Landart-Projekte
im Lebensraum Natur
“Ich kann kein Marokkaner werden, ich kann kein Bayer werden, ich will kein Niedersachse bleiben, ich muß Widerstand spüren, wie ein Emigrant, der guckt …” (Hannsjörg Voth)[2]
Wuppertal. Erkundet Berges mit seiner präzisen, reduzierten Bildsprache Möglichkeiten für Farbe und Material, für Form, Fläche und Raum, durchfährt oder bebaut Hannsjörg Voth weite Räume unter freiem Himmel in unterschiedlichen Landschaften. Seit den 1970er Jahren verweist er mit monumentalen, spektakulären Land-Art Projekten auf von Menschen gemachte Eingriffe in Regionen mit unterschiedlicher Geschichte und Kultur.[3] Ingrid Amslinger dokumentiert in ruhigen und eindrucksvollen schwarz-weiß Fotografien diese zeitlich begrenzten, vergänglichen Land-Art-Projekte. Sie werden in Fotografien, Katalogen und Filmen bewahrt, erinnern an weiten Raum, Bewegung und Wahrnehmung aus unterschiedlichem Abstand. Acht dieser Projekte werden zusammen mit Voths parallel dazu entstandener Malerei, Modellen, Konstruktionszeichnungen und surrealen, poetischen Blättern im von der Heydt Museum vorgestellt. Für seine allzeit gültigen Themen Natur, Zivilisation, Mensch und Umwelt findet der ausgebildete Zimmermann, Absolvent der Bremer Kunsthochschule und documenta-Teilnehmer archetypische, philosophische und zugleich religiöse Formulierungen. Sie gewinnen in der Klimakrise erneut brisante Aktualität. Er sei, heißt es, vehementer Gegner des landschaftszerstörenden Offroad-Tourismus.
In Voths zahlreichen spektakulären Projekten stehen immer wieder die vier Elemente Wasser und Feuer, Erde und Luft im Mittelpunkt.
Feuer
Hauptelement in seinem Projekt Reise ins Meer ist das Feuer. „Mit dem Feuerraub“, schreibt die Kunsthistorikerin Monika Wagner, „gelangte Feuer nicht nur als kulturschaffendes, sondern auch als kriegerisches Element in den Besitz des Menschen. Feuer brennt in der Hölle und gehört als Licht zu den himmlischen Verheißungen.“ „Im Unterschied zur Gegenwärtigkeit des Feuers“, so Wagner, „sind Asche und Ruß besonders „gedächtnisfähige Materialien“, sie sind „Speicher für Vergangenes“.[4]
Eine verpackte Skulptur mit einer Bleimaske, festgezurrt auf einem Floß aus Baumstämmen, reist flussabwärts von einer Industrie-, Kultur-, und Hafenstadt (Ludwigshafen / Pfalz) in die holländische Handelsstadt Rotterdam. Diese 10-tägige Reise ins Meer (Mai bis Juni 1978) endet mit einer Verbrennungszeremonie der Statue. Voth übergibt die Asche dem Element Wasser, den Ruß dem Luftraum. Die bleierne Maske bleibt. Durchfahren wurden mit Weinbergen bebaute Hänge, Naturgebiete und Industrielandschaft. Dazu zählen die Industrie- und Fabrikgebiete Krefeld, Duisburg und das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim.
Erde als Gedächtnisspeicher
In der marokkanischen Mahra-Ebene entstehen mehrere Projekte in der dort traditionellen Lehmbauweise. Sie symbolisieren Prozesse des Wachsens und Werdens, von Ruhe und Dynamik. Das Element Erde wird als Gedächtnisspeicher – als „Urstoff“ und „Speicher von Geschichte eines Ortes“ verstanden.[5] Voth erweitert in seinen Projekten diese Symbolik.
Eine breite, 16 Meter hohe Himmelstreppe (gebaut 1980-87) führt über 52 Stufen scheinbar ins Unendliche. Wie eine Jakobsleiter symbolisiert sie ein Hinauf- und Hinuntersteigen zwischen Himmel und Erde. Im Innern des monumentalen Dreiecks finden sich Wohn- und Arbeitsräume. Auf der oberen Plattform steht, von außen unsichtbar, die mythologische Skulptur Ikarus: Zwei Flügel aus handgeschmiedeten scharfen Messern, zwischen die ein Mensch passt, erinnern an den Wunsch, den Luftraum zu erobern.
Die Erdskulptur Goldene Spirale – ein Bauwerk, das über einen Brunnen gebaut ist – konstruiert Voth zwischen 1994 bis 1997 nach dem Prinzip des goldenen Schnitts in Verbindung mit der Fibonacci-Reihe des Leonardo von Pisa (1180-1250). Er beziehe sich, so Voth, auf eine Gesetzmäßigkeit, die in vielen ungestört ablaufenden Prozessen in der Natur stattfindet – im menschlichen Körper, Kristallen und Pflanzen. Auf dem Wasser des Brunnens schwimmt eine Arche („Urboot“) aus Edelmetall, die Anfang und Urkraft versinnbildlichen soll.
Die Stadt des Orion realisiert Voth 2000 – 2003. Sieben große astronomische Beobachtungstürme aus gestampftem Lehm repräsentieren die sieben Hauptsterne des Orion als Großskulptur auf der Erde. Rigel, Siaph, die drei >Gürtelsterne< Mintaka, Alnitak und Alnilam, sowie Bellatrix und Betelgeuse, sind durch ihre Lage am Himmelsäquator von allen Teilen der Welt am eindrucksvollsten in den Wintermonaten zu sehen. Geplant sind astronomisch exakt berechnete Rundgänge.
Lynn Chadwick: Mit Eisenstäben im Raum zeichnen
„Es scheint mir, dass Kunst die Manifestation einer lebenswichtigen Kraft sein muss, die aus der Dunkelheit kommt, von der Vorstellungskraft erfasst und von den Fähigkeiten und vom Können des Künstlers übersetzt wird … Unabhängig von der endgültigen Form ist die Kraft dahinter … unteilbar. Wenn wir über diese Kraft philosophieren, verlieren wir sie aus den Augen.“ Lynn Chadwick, 1954[6]
Duisburg. In einer außergewöhnlichen Werkschau mit rund 70 Plastiken, zahlreichen Zeichnungen und Grafiken bevölkern Lynn Chadwicks teils fantastische, teils skurrile Skulpturen das Lehmbruckmuseum in Duisburg. Chadwick (1914-2003) ist einer der wegweisenden Bildhauer der britischen Moderne nach 1945. Die Retrospektive zeigt einige Mobiles und Stabiles und Arbeiten von den frühen 1950er Jahren bis zur Jahrtausendwende.[7]Schwerpunkt der Schau sind Icons der Werkgruppe Beasts (Biester), Skulpturen der Strangers (Fremde), Birds (Vögel) und menschliche Figuren, die sitzen, stehen oder tanzen (Sitting Figures, Dancing Figures) – ein Universum massiver Körper, teils auf fragilen Stelzen, teils Abstraktionen menschlicher, tierischer und architektonischer Elemente.
Fabelwesen und Biester bevölkern Raum und Zeit Unterschiedlich interpretiert werden Chadwicks eckige, figurativ-abstrakte Sinnbilder – halb Mensch, halb Tier – als „Geometrie der Angst“, als skurrile, technoide Gestalten aus romantischen Märchen und kurioser Sciencefiction-Welt. Ein Symbol für Freiheit und Schwerelosigkeit seien die „Fledermauswesen“. Mit seinen Skulpturen habe er, heißt es, einen Nerv der Zeit nach 1945 getroffen, einer Zeit der Zivilisationsmüdigkeit, utopischer Fortschrittsgläubigkeit und existentieller Angst nach den unmittelbar zurückliegenden Kriegserfahrungen. Ein Teddypärchen (Teddy Boy and Girl, 1956) steht für die Einflüsse von Jugendkultur und Popart.
Architektur und Natur
Dem Bildhauer selbst war der Schaffensprozess wichtig. Für seine „Faltungen“ und „Zersplitterungen“, für massive und fragile Skulpturen, zeichnete er ohne festes Konzept mit Eisenstäben im Raum: er schweißte ein Gerüst aus Metallstangen und füllte es mit einem Gemisch aus Gips und pulverisiertem Eisen (Stolit). Anschließend wird die Figur in Bronze gegossen. Für spätere Figuren verwendet er blanken Edelstahl (Sitting Figures, 1989).
Für den Kunsthistoriker Werner Schmalenbach sind Chadwicks Plastiken – ähnlich wie Skelettbauten in der Architektur – „Rahmenkonstruktionen mit Füllwerk“.[8]
Wie wichtig ihm die Gestaltung der Figur im Raum ist, erläutert Chadwick 1995, befragt zur Entstehung einer Figur der Stranger:„… das sind nur Eisenschrottstücke, die ich zu einem Blech zusammengeschweißt habe. Ich habe sie nur leicht zu einem Rechteck geformt und dann die Beine hinzugefügt, durch … eine andere Form der Konstruktion“.[9]
Ausstellungen / Literatur:
- Laurenz Berges. 4100 Duisburg. Das letzte Jahrhundert; Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop; Dauer: 9.2.-28.6., www.quadrat-bottrop.de / www.laurenzberges.de, Katalog
- Lynn Chadwick. Biester der Zeit; Lehmbruckmuseum Duisburg, Dauer: 29.2- 20.09.; www.lehmbruckmuseum.de / in Zusammenarbeit mit Georg Kolbe Museum und Haus am Waldsee, Berlin, Katalog. Aktuell online unter: https://lehmbruckmuseum.de/lehmbruck-museum-frei-haus/
- Hannsjörg Voth / Ingrid Amslinger, Zu Lande und zu Wasser, von der Heydt-Museum, Wuppertal, Dauer: 19.5.-13.9, https://www.von-der-heydt-museum.de/Voth.html /; Zitate zu einzelnen Projekten nach: www.hansjoerg-voth.de
- Artikel- und Zitatnachweis:https://www.theomag.de/125/bws26.htm, © Barbara Wucherer-Staar, 2020