Das Leben als solches ist nicht die Wirklichkeit. Wir sind es, die Steinen und Kieseln Leben verleihen. Frederick Sommer[1]
Ein Kabinett für die Zeit
Die Zeit ist immer da. Es ist immer die gleiche Zeit. Nur ihre Dauer wird individuell erlebt, als Moment, als Ewigkeit, als Leere, Stille oder als Hektik. Hier – im Kabinett der Uhrenmanufaktur Audemars Piguet auf der Art Basel 2019 – kann man die Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven hören, fühlen und sehen. Uhren messen die Zeit, Fachleute zeigen und erklären den Besuchern die kostbaren Chronometer, Wunderwerke hochpräziser Handfertigung.
Die Lounge The Vallée (Das Tal) Fernando Mastrangelo (Brooklyn) und Jana Winderen (Oslo) erschließen die Zeit in einer immersiven Installation.[2] Bei mehreren Besuchen zu unterschiedlichen Jahreszeiten im Vallée de Joux, dem Firmensitz der Uhrenmanufaktur Audemars Piguet lernten sie deren Materialien und Ressourcen kennen. Wald, Wasser, Eis, Felsen, aus denen Eisenerz gewonnen werden kann, bieten die Ressourcen für eine hochspezialisierte, qualitativ, hochwertige, alte Handwerkstradition.[3]
Uhrmacher, so das Selbstverständnis der fast 150-jährigen Manufaktur, gewännen hier von der Natur nicht nur Materialien – Sand, Quarz, Metall, Diamanten – sondern auch Inspirationen. Ebenso wie der Ablauf der Zeit von der Astronomie (natur-)wissenschaftlich erforscht wird takten und vermessen Chronometer Zeit-Räume. Sie vermitteln, heißt es, ein Verständnis für das Universum in seiner Gesamtheit.
Wieweit braucht Technik die Kunst? Kunst nutzt und braucht Technik. Aber inwieweit braucht Technik Kunst? Seit 2013 lädt Audemars Piguet Künstler ein, die Region des Vallée des Joux und die fast 150- jährige Unternehmenskultur individuell zu reflektieren und zu erschließen: „Denn Uhrmacherei, Handwerk und Kunst haben gemeinsame Wurzeln“.[4]
Fernando Mastrangelo: Zeit in (geologischen) Schichten messen. Wie, fragt Mastrangelo in einem Interview, hält Erde die Zeit fest? Er misst die Spuren der Zeit an Fichten im Rissoud-Wald und in abgelagerten geologischen Schichten, Gesteinsformationen in Höhlen und Gebirgszügen. Material und Geschichte, geschichtete Zeit, über Millionen von Jahren geformt, macht er sicht- und greifbar.[5]
Mineralien dieser Region – Sand, Steinsalz, Kieselsäure und Kalkstein – wurden für die Installation in Wände, Möbel und Vitrinen gegossen. Mastrangelo hebt in einzelnen Modulen der Installation Materialien der Uhrenkollektion hervor. Er lagert – Gold, Messing, Aventurin, Saphirglas und Eisen – in fünf Nischen einer „Strata-Wall“ (Schichtmauer)“ und erinnert mit einem Kronleuchter aus zerkleinertem Glas an die Kalkstein-Stalaktiten der Vallorbe-Höhlen. Die Fichten des Rissoud-Waldes bildet er aus Sand und Silizium-Dioxid nach. In diese Säulen sind Schaukästen eingelassen, in denen neueste und historische Chronometer gezeigt werden.[6]
Material als Metapher Mastrangelo ist für seine skulpturalen Möbel bekannt, die er aus unterschiedlichen natürlichen Materialien, Granulaten aus Sand, Salz und Kieselsäure fertigen lässt. Sein Konzept, Form, Inhalt und Materialien in Einklang zu bringen führt er zurück auf seine Arbeit für den Medienkünstler und Bildhauer Matthew Barney (*1967). Dieser verwendet oft Materialien als Metaphern, wie man es auch von Joseph Beuys kennt.[7] Jana Winderen: Zeit sehen und hören
Erweitert wird dieses konzeptionelle Zeit-Projekt mit einer digitalen Wiedergabe des Sonnenauf- und Untergangs im Vallée de Joux und einer Klanginstallation Jana Winderens. Die an der Goldsmiths-Art-University in London ausgebildete Künstlerin, Naturwissenschaftlerin und Mathematikerin arbeitet seit 12 Jahren daran, mit modernster Technologie verborgene Geräusche hörbar zu machen, die sowohl für die menschlichen Sinne unhörbar sind als auch von Geräuschen von Orten und Lebewesen stammen, die schwer zugänglich sind. Dafür nutzt sie Mikrofon, Hydrofon und Ultraschalldetektor, um die Geräusche des Ökosystems zu verstärken.[8]
Die über 300 Jahre alten Fichten des Risoud-Waldes und deren Eigenschaften als Resonanzkörper verbindet sie mit der Klanglandschaft, die sich unter der Oberfläche des Lac de Joux entfaltet. Sie sammelt diese Töne, aufgenommen zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten und übersetzt das Vallée de Joux – ein zentrales Ökosystem – in einen eindrucksvollen, harmonischen Klangteppich.
Winderen – Impuls für die eigene Zeit Mastrangelo will mit seiner Konzeption „Sinn für Schönheit und Geschichte dem Besucher vermitteln“. Die Ruhezone in der Felseninstallation, wo die Zeit stetig vergeht, wo die Farben und Klänge sich um den Betrachter herum wie im Kino verändern, scheint idyllisch. Winderen gibt Impulse für eine visuelle Klang-Meditation, die der Besucher über Kopfhörer in seinem eigenen Zeitmaß von der Außenwelt geschützt, erleben kann. Mit ihrem harmonisch komponierten Klangteppich will die Norwegerin auch kritisch daran erinnern, dass heute solch ein geschlossenes, fragiles Ökosystem von Menschen gefährdet werden kann. In ihrer Arbeit, so die Klangkünstlerin, achte und höre sie auf die Lebewesen und ihre Interaktion um sie herum. Sie schätze, so Winderen, die Immaterialität einer Klangarbeit und die Offenheit, die sowohl assoziative als auch direkte Erfahrungen und sensorische Wahrnehmungen ermöglicht. Dafür suche sie Geräusche versteckter Quellen, Frequenzen, die wir nicht wahrnehmen können, sowie von Orten und Lebewesen, die schwer erreichbar sind. Mit den Uhrmachern verbinde sie Faszination und Aufmerksamkeit für kleinste Details: „Auch Uhrmacher haben eine erhöhte Klangempfindlichkeit. Die Uhr wird mit dem Ticken lebendig.“
Winderen – Impuls für gemeinsame Zeit Winderen benutzt diese gesammelten Klänge auch als Ausgangsmaterial für ein Klangkonzert im Haus der elektronischen Künste in Basel (HeK). Aufgeführt wurde Du Petit Risoud aux profondeurs du Lac de Joux (Vom Petit Risoud bis in die Tiefen des Lac de Joux) im Rahmen einer Ausstellung zum Thema Künstliche Intelligenz (KI): Entangled Realities ( = verwobene Realitäten).[9] Standen in der Messe-Lounge unterschiedliche Reflektionen über Zeit, Ort, kulturelle und historische Ursprünge der Uhrenmanufaktur und das Ökosystem des Vallée de Joux im Focus, ist im HeK das allgegenwärtige Thema Künstliche Intelligenz und deren gesellschafts-politische Brisanz wichtig. Wissen wir überhaupt, wie alltäglich KI ist? Können wir unterscheiden, was von Hand gemacht und in der Natur gewachsen und was von simuliert oder von Computern generiert ist? Können wir lernen, mit den von uns programmierten, intelligenten Systemen umzugehen. Wie verändert sich mit ihnen unsere Realität, gerade auch, wenn solche Algorithmen entgleisen? Winderens Klang-Konzert lässt aufmerken auf die Grenze zwischen „echt“ und reproduziert, ihr Hinweis auf Gefährdungen von Ökosystemen wird im Zusammenhang mit Entangled Realities umso eindringlicher.
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Anmerkungen, Ausstellungen und Literatur:
• Informationen zum Lounge-Konzept The Vallée (2019) finden sich unter: https://www.audemarspiguet.com/en/experience/art-basel/
• Entangled Realities – Leben mit künstlicher Intelligenz, HeK, Haus der elektronischen Künste), Basel, 09.05.2019 – 11.08.2019; https://www.hek.ch/programm/events/event/entangled-realities-leben-mit-kuenstlicher-intelligenz.html
Überlegungen und Skepsis zum Thema Kunst, Gesellschaft, Politik und Künstliche Intelligenz (KI) / Artistic Intelligence (AI) finden sich unter anderem in: Artistic Intelligence, Kunstverein Hannover, 04.05. – 30.06.2019; http://www.kunstverein-hannover.de/ausstellungen/2019-/artistic-intelligence-.html // AI: More than human, Barbican Centre, London, 16.05. – 26.08.2019; https://www.barbican.org.uk/whats-on/2019/event/ai-more-than-human // Holger Volland, Die kreative Macht der Maschinen. Warum künstliche Intelligenzen bestimmen, was wir morgen fühlen und denken, Weinheim, 2018; http://www.holgervolland.com/ und https://www.theomag.de/116/bws20.htm
Anmerkungen
________________________________________ [1] Frederick Sommer, zitiert nach: Susan Sonntag, Über Fotografie, Fischer Taschenbuch Verlag, 1980, S. 179.
[2] Immersion bedeutet hier „Eintauchen in eine virtuelle Umgebung“ (In: https://www.duden.de/rechtschreibung/Immersion). Der Besucher kann in dieser Installation einen simulierten Raum der Ruhe passiv erleben. Aber es gibt eine Grenze: er kann nicht mit der Installation interagieren.
[3] https://www.audemarspiguet.com/de/experience/art-basel/. Das Lounge-Konzept The Vallée von Audemars Piguet wird 2019 auf allen Messen der Art Basel gezeigt – in Hongkong (29. bis 31. März) in Basel (13. Bis 16 Juni) und Miami Beach (05. bis 08. Dezember). 2020 wird dieses Konzept weiterentwickelt. Im Vallée de Joux, dem „Tal der Uhren“, sind weitere Qualitäts-Manufakturen angesiedelt: Breguet, Jaeger-LeCoultre, Meylan, Philippe Dufour u.a.)
[4] (Quelle: https://www.audemarspiguet.com/de/experience/art-projects/#art-project-jana-winderen) Lounge- und Kunstkonzepte auf der Art Basel zeigt Audemars Piguet seit 2013. Zu den größeren Projekten zählt die immersive Installation HALO der britischen Künstler Ruth Jarman und Joe Gerhardt, genannt Semiconductor, die 2018 unterhalb des Basler Messeplatzes temporär eingerichtet wurde. Hier sollten Verbindungen und gegenseitige Beeinflussungen zwischen Kunst und Naturwissenschaften sichtbar gemacht werden. Künstlerische Leitlinie war der Versuch, mit der Darstellung unterschiedlicher naturwissenschaftlicher Prozesse unterschiedliche künstlerische Objekte zu generieren (https://www.theomag.de/115/bws19.htm)
[5] Taylor Dafoe, A sense of beauty and a bit of history: What Artist Fernando Mastrangelo hopes viewers take away from his striking lounge at Art Basel In Partnership with Audemars Piguet), in: arnet / artworld, June 14, 2019
[6] Abbildungen finden sich unter: https://www.audemarspiguet.com/de/experience/art-basel/
[7] Eva Karcher, Kunst-Star Matthew Barney. Spiel mir das Lied auf der Sho, In: Spiegel-online, Sonntag, 16.04.2006
[8] Winderen sammelt solche Aufzeichnungen von Flüssen, Ufern und Ozeanen in Asien, Europa und Amerika, vom Meereis am Nordpol, von der Barentssee und von Gletschern. Sie bringt deren Audiotopografie aus der Tiefe an die Oberfläche. Zu ihren Werken zählt unter anderem die Soundarbeit bára (2017) mit verschiedensten Tönen – „ … vom Klang der Wellen und den Klicklauten der Krustentiere über das Grunzen kleinerer Fischarten bei ihrer Interaktion mit Korallen bis hin zu den intensiv den Raum durchflutenden Gesängen der Robben und Wale“. (Quellen: http://www.janawinderen.com/exhibitions/bara_tidalectics_tba21_academy; http://press.tba21.org/news-tidalectics-2-juni-19-november-2017 und https://langenacht.orf.at/museum/bl/wien/li/thyssen-bornemisza-art-contemporary-augarten/), Recherche: 2019-09-20)
[9] https://www.audemarspiguet.com/de/experience/art-projects/#art-project-jana-winderen, HeK, Haus der elektronischen Künste Basel, am 11.06.2019
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/121/bws24.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2019